Meine Umkehr


Ostern 1940 war ich 10 Jahre alt. Ich kam als "Jungvolk" zur HJ (Hitler Jugend). Einmal wöchentlich mussten wir zum marschieren erscheinen. Es gab Kameradschaft, viel Sport und viele Spiele. Es gefiel mir.

Wegen der Bombenangriffe im Ruhrgebiet wurde ich im Frühjahr 1941 für mehrere Monate mit meiner Schulklasse nach Bayern in ein Kloster in Tutzing evakuiert.

Große Säle, viel Platz, ausreichend zu Essen und zu trinken, es gefiel mir dort. Es war ganz anders als die ärmliche Enge, die ich von Zuhause kannte (wir wohnten Zuhause mit vier Personen in zwei kleinen Zimmern, eins war Küche, eins war Schlafraum, und wir hatten oft nicht genug zu essen).

Seit jenen Erlebnissen hatte ich den Drang, von Zuhause wegzugehen. Egal wohin. Es schien mir überall besser.

1942 (ich war 12) bekam ich die Chance und bewarb mich gegen den Willen meiner Mutter (sie war alleinerziehend, denn mein Vater war im Krieg) bei der AHS (Adolf Hitler Schule). Die AHS waren NS-Eliteschulen, in denen die zukünftige politische und staatliche Führungselite "herangezogen" werden sollte.

Die Auswahlkriterien für die AHS waren sehr streng. Da ich aber sehr sportlich war und gute Schulnoten hatte, wurde ich 1942, als einer von zweien vom sogenannten "Bann 259" (der umfasste Herne und Castrop-Rauxel), angenommen. Ich kam zur AHS in Heiligendamm (Randnote: Die AHS war damals in Heiligendamm in dem gleichen Gebäudekomplex, in dem im letzten Jahr der G8-Gipfel stattfand).

Ich war ein Musterschüler, war sehr sportlich, hatte gute Noten, und glaubte alles, was man mir dort erzählte.

Die Weihnachtsferien 1944/45 verbrachte ich in Neustadt (heute Prudnik) in Oberschlesien (heute Polen). Dorthin waren inzwischen meine Mutter und meine Geschwister zu Verwandten evakuiert.

Neujahr 1945 zog bei unserem Haus ein langer Flüchtlingstreck zu Fuss über die Landstrasse. Ich stand mit Anderen am Rand der Landstrasse und sah zu, was da passierte. Und da sah ich, dass es keine Flüchtlinge waren, sondern KZ-Häftlinge, die irgendwohin gebracht wurden. Es waren ausgemergelte hungrige arme Menschen.

Es war erbärmlich und unmenschlich. Ich höre heute noch die Worte eines Mannes, der in meiner Nähe vorbeizog:
"Ich will sterben. Der Tod ist süsser als Zucker".

Ich bin zu meiner Mutter und bat um etwas Essbares. Es waren nur Pellkartoffeln da. Ich nahm alle mit zur Strasse.

Ich hatte gerade ein paar Kartoffeln unter den Häftlingen verteilt, da kam ein Aufseher von der "schwarzen SS", trat mir die Kartoffeln aus der Hand und setze mir seine Maschinenpistole auf die Brust:
"Geh weg, sonst erschiesse ich Dich!"

Bis zu diesem Tag hatte ich noch nichts von KZs gewusst, und hatte auch alles geglaubt, was mir meine Lehrer in der AHS über "Volksschädlinge" und "Umerziehung" erzählt hatten.

Doch in diesem Moment sah ich die Unmenschlichkeit und das Unrecht und wollte nicht mehr Teil davon sein. Und ich begriff jetzt auch, was im November 1938 wirklich geschehen war.

Nach den Ferien ging ich noch zurück in die AHS. Doch ich glaubte meinen Lehrern kein Wort mehr. Kurz darauf wurde die gesamte Klasse zum "Schanzen" (d.h. Ausheben von Panzergräben) in Richtung Osten befohlen.

Wir waren vielleicht 30-50 KM von der Ostfront (die zu der Zeit in der Nähe von Krakau war) entfernt. Ich setzte mich in einem günstigen Augenblick vom Schanzen ab. Das heisst, als es niemand sah, lief ich davon und war damit von der AHS und der HJ desertiert.

Ich trug zwar noch die Uniform (ich hatte nichts anderes anzuziehen), aber das Kapitel AHS und HJ war für mich endgültig beendet.

Jetzt wollte ich nur noch nach Hause zu meiner Mutter und zu meinen Geschwistern. Doch das war gefährlicher, als ich dachte.

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Kommentare

Whoa, jetzt wird's spannend...

Hallo Hans,
Bitte weiterschreiben! So spannend kann Geschichte sein.

Grüße, Bastian

Hallo!

Super, so ehrlich. Und so unmittelbar erfährt (na gut, erfuhr) man die Geschichte in der Schule leider nicht, da gab's nur einmal nen alten 68'er. Bin schon auf den nächsten Teil gespannt!

Grüße,
Markus

Moin!
Hab grad hierher gefunden und bin froh darüber.
Du hast interessante Sachen zu erzählen und ich hoffe mal, dass es von diesem Beitrag hier bald eine Fortsetzung gibt!

lg Lars

Ja lieber Hans, mir ist es ähnlich
ergangen.In der Slowakei wo wir ein
halbes Jahr waren, hatten wir monatlich
einen Praktikanten der AHS.Auch ich
habe erst 1945 von den Grausamkeiten
der Hazis erfahren.
Herzliche Grüße Horst Bader Eving