November 1938 in Castrop


In meiner Kindheit wohnten wir auch in Obercastrop, in der Breckenstrasse. Wir hatten einen Nachbarn, der viel für uns Kinder gemacht hat und zu uns freundlich war.

Er schnitzte uns Möhren und Kohlrabi und machte mit, wenn wir auf der Strasse Fussball spielten. Er war Feuerwehrmann und nahm uns auch mal mit auf die Feuerwache, um uns dort alles zu zeigen.

Eines Tages war die Schule früher aus, weil irgend etwas in Castrop passiert sein sollte. Da wir neugierig waren, sind ein paar von uns zur Altstadt gelaufen.

Als wir am Markt ankamen, sahen wir, dass auf der Rückseite des Reiterbrunnens (da wo heute die Deutsche Bank und die Fleischerei Schmidt ihre Ladenlokale haben) zerstörte Möbel auf der Strasse lagen. Man hat uns dort erzählt, dass die oben aus den Fenstern geworfen wurden.

Dann sind wir zum Kaufhaus "EPA" im Mönnichbau (in der Nähe vom heutigen Bahnhof Süd; das damalige Haus steht heute nicht mehr) gegangen. Damals war dort auch die Endstelle der Strassenbahnlinien 7 und 27. Die Schaufensterscheiben waren eingeschlagen, die Ware lag auf dem Bürgersteig. Auf dem Bürgersteig lagen auch viele Klümpken (Bonbons), von denen wir uns einige in die Tasche steckten.

Weiter sind wir in den Ort (die Strasse heisst heute noch "Im Ort") gegangen. Da war die Synagoge (als Kinder sagten wir "Judenkirche") noch am brennen. Es waren viele Schaulustige da. Plötzlich sah ich unseren Nachbarn, den Feuerwehrmann. Er war aber nicht in seiner Feuerwehruniform. Er hatte eine braune Uniform an.

Als er uns sah, kam er wutentbrannt auf uns zu und jagte uns weg mit den Worten: "Verschwindet! Macht dass Ihr wegkommt, sonst mach ich Euch Beine!". Wir rannten.

Ich war sehr erschrocken, meinen Nachbarn so böse zu sehen und habe damals auch nicht verstanden, was da passiert war.

Danach bin ich dem Nachbarn aus Angst immer aus dem Weg gegangen und wir haben auch nie wieder zusammen gespielt. Irgendwann später ist er dann in den Krieg gezogen und kam nicht wieder.

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Kommentare

Wo in der Castroper Altstadt stand denn die Synagoge? Ich bin da zwar regelmäßig, aber wüsste nicht wo.


Das wissen viele leider nicht.

In der Fussgängerzone (heute wird die Stelle "Simon-Cohen Platz" genannt), ist ein Gedenkstein mit Tafel. Er wird im Sommer von Passanten und Alkies als Sitzplatz genutzt. Die Grundrisse der Synagoge sind als grosses Rechteck mit Pflastersteinen nachgebildet, über das die meisten Leute ohne es zu bemerken einfach drüber laufen. Und Lieferwagen für die anliegenden Geschäfte stehen dort auch oft, sozusagen "halb in der Kirche".

Und einmal im Jahr wird dort eine Gedenkfeier abgehalten.


Ach ja, hier ist ein Link zu Google-Maps der den Platz der ehemaligen Synagoge zeigt. Auf dem Bild steht sogar ein weisser Lieferwagen direkt auf den Umrissen der Synagoge - vielleicht weil der Fahrer dachte, da wäre ein Parkplatz eingezeichnet. Irgendwie makaber.



Wurde durch meinen Sohn auf diesen Blog aufmerksam. Tolle Geschichten - spannend zu lesen, das ist gelebte History. Da wird das Internet auf einmal persönlich und bekommt ein Gesicht. Noch schöner dass der Blogger bereits deutlich über 70 Jahre ist. Werden mich sicherlich häufiger auf dieser Seite tummeln.

Erstmal: Toller Blog, keine Frage!

Und dann: Das sind die Umrisse (Google-Maps-Link)? Ich meine, da passen ja gerademal zwei Lieferwagen rein. Oder sehe ich was nicht, was ihr sehr :)

Gruß aus Mülheim

Ich schreibe immoment eine Facherbeit zum Thema, und ich würde gerne wissen ob ich da deine Erfahrungen verwenden darf.
Außerdem würde ich gerne wissen, wann genau dieser Tag war, war das schon am 9.November oder vielleicht erst am 11., falls du dich nach solanger Zeit noch daran erinnerst

einen lieben gruß aus ickern. ich finde diesen block wirklich sehr schön ich könnte stundenlang über diese zeit nachdenken und philosophieren. immer auf der suche nach neuen geschichten bin ich irgendwann auf diese seite gestossen und bin wirklich begeistert. es muss stellenweise natürlich hart gewesen sein in dieser zeit aufzuwachsen, aber ich stell es mir auf der anderen seite auch sehr schön vor. in der heutigen zeit ist alles so oberflächlich und unpersönlich.
danke das sie ihre erinnerungen mit uns teilen.